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Das Ende einer Ära

Ralf Wiggenhauser hört nach 16 Jahren als Trainer der Red Sparrows auf und verabschiedet sich in ein Sabbat-Jahr. Zeit zurückzublicken auf eine erstaunliche Amtszeit.

Freiburg scheint ein gutes Pflaster für langlebige Trainerkarrieren zu sein. Die SC-Trainer Volker Finke und Christian Streich stehen ebenso sinnbildlich für die Erfolgsgeschichte der Bundesliga-Fußballer wie Ralf Wiggenhauser für die der Handballerinnen. Dabei gibt es einige Parallelen zwischen dem SC Freiburg und der HSG Freiburg: In einem beschaulichen Umfeld mit bescheidenen finanziellen Mitteln setzt man seit Jahren auf die Jugend und hat sich mit diesem Weg im Konzert der Großen einen Platz erspielt. Dass eine derartige Entwicklung nicht ohne einen Trainer mit fachlicher Qualität möglich wäre, steht außer Frage. Dass Fachwissen allein allerdings nie im Leben zu einem 16-jährigen Engagement ausreichen würde, ebenso. Das weiß auch Wiggenhauser selbst, der offen eingesteht, nicht besonders viel über Handball gewusst zu haben, als eine glückliche Fügung ihn 2005 auf die Trainerbank der HSG brachte.

Der damals 23-Jährige Lehramtsstudent aus Ehingen hatte zum Zeitpunkt der HSG-Anfrage – die ihn ursprünglich als Trainer für die weibliche C-Jugend im Auge hatten – ein reizvolles Angebot als Spieler auf dem Tisch, das er nach zweijähriger krankheitsbedingter Pause annehmen wollte. Eigentlich…
Aber die HSG war hartnäckig, der damalige Jugendleiter Wölfle Metz telefonierte ihm sogar bis nach Wales hinterher. Und just in dem Moment, als Wiggenhauser absagen wollte, wurde aus den C-Mädchen plötzlich das Angebot die Damen 1 in der Landesliga zu übernehmen. «Das war echt verrückt, denn noch nie hatte mich ja jemand von denen gesehen…», erinnert sich der heutige Realschullehrer. Als er sich beim letzten Saisonspiel auf der Tribüne blicken ließ, redete die damalige Vorsitzende Petra Ganter unablässig auf ihn ein. «Nach Abpfiff ist sie dann zu Gisi (Schoritz, sportliche Leiterin) hingerannt und hat gesagt ‘Wir haben einen Trainer!’. Ich weiß noch, wie sie mich anschaut, wie halt nur Gisi gucken kann, und ich dachte schon ‘Oh Gott…’».

Aber aus diesem bösen Blick entstand eine ganz besondere Verbindung, sowohl zum Verein als auch zur sportlichen Leiterin selbst, die Wiggenhauser als prägendste Person seiner HSG-Zeit und liebevoll als seine «Freiburger Familie» bezeichnet. Zweimal wohnte er sogar in ihrem Keller. «Wir haben viele stürmische Zeiten erlebt und nach 16 Jahren passt praktisch kein Blatt Papier zwischen uns. Wir hatten unzählige Diskussionen, auch viele kontroverse, aber am Ende haben wir trotzdem immer zusammengehalten, egal, was war», berichtet Schoritz wehmütig. «Ralf ist nach ganz kurzer Zeit schon ein sehr guter Freund geworden. Er kann Menschen begeistern und mitnehmen, mit ihm ist es niemals langweilig geworden und es macht immer Spaß. Deswegen schmerzt der Abschied natürlich sehr».

Sportlich ging es unter seiner Leitung nur bergauf. Auf dem Weg von der Landesliga bis in die 2. Bundesliga heimste die HSG Freiburg auch einen SHV-Pokal-Sieg und den Titel «Freiburgs Mannschaft des Jahres» ein. Insgesamt eine Entwicklung, die sich Wiggenhauser nie hätte vorstellen können. Das Traineramt eins-zwei Jahre gut auszufüllen und dann das Referendariat zu beginnen, mehr war nicht geplant. Und dann kam alles anders… Drei Aufstiege in den ersten vier Jahren, eigentlich viel zu schnell für die Strukturen und Möglichkeiten des Vereins. Doch entgegen aller Widrigkeiten und Prognosen hat es der Trainer mit seinem Team immer wieder geschafft zu überraschen. Gesetzmäßigkeiten zu widerlegen. Sich zu entwickeln.

«Du musst noch viel lernen», musste er sich einst von seiner ausgebufften Spielerin Lile Grbavac anhören. Heute kann sie sagen: «… das hat er getan». «Das war halt auch das Coole bei der HSG, man durfte das alles lernen, also Learning by Doing, ich konnte ausprobieren, ich war ja ein junger Trainer, hatte gar keine Erfahrung», schildert Wiggenhauser die Vorteile der HSG Freiburg. Und so konnten sich mit und neben ihm auch andere entwickeln. Zum einen seine langjährigen Co-Trainer Benny «Udo» Thoma, der noch im Teenager-Alter als Assistent einstieg und mit Wiggenhauser neun Jahre ein sportlich wie musikalisch herausragendes Duo bildete, und Ralf «Sause» Sausmann, der nach anfänglicher Skepsis schnell Gefallen an der Aufgabe fand und fünf Jahre als ‘Good Cop’ einen erfrischenden Gegenpol zum emotionalen ‘Bad Cop’ Wiggenhauser darstellte. Mit seinen Co-Trainern pflegte er stets eine vertrauensvolle und freundschaftliche Zusammenarbeit, die auch jenseits des Feldes Blüten trieb.

Zum anderen hatte auch die Mannschaft die Zeit und Ruhe sich zu entwickeln. «Ralf war von Beginn an ein unglaublicher Motivator, der immer an uns geglaubt und uns das Gefühl gegeben hat, dass wir das alles schaffen können», erinnert sich Tanja Papke, die viele Jahre der Freiburger Erfolgsgeschichte als Führungsspielerin mitgeschrieben hat.

Durch die bescheidenen finanziellen Mittel war stets Kreativität gefragt, etliche junge Spielerinnen bekamen sehr früh die Gelegenheit bei den Damen 1 Erfahrung zu sammeln. Viele Stammkräfte des jetzigen Teams spielten bereits mit 16-17 Jahren in der 3. Liga. «Handballerisch habe ich ihm viel zu verdanken und gefühlt alles von ihm gelernt, da er mein halbes Leben mein Trainer war», berichtet die 30-jährige Kathrin Disch, die Wiggenhauser mit zarten 15 Jahren ins Damenteam integrierte. Auch die nach der ‘Alterspräsidentin’ dienstälteste Spielerin Angelika Makelko betont, dass er «immer Wert darauf gelegt hat, dass sich auch junge Spielerinnen einbringen, menschlich weiterentwickeln und sich etwas trauen. Er hat es jedes Jahr geschafft, dass man sich in verschiedenen Punkten verbessert».

Und auch der Verein als Ganzes hat sich in seiner Amtszeit weiterentwickelt, Strukturen verbessert, was sogar das Abenteuer 2. Bundesliga möglich gemacht hat. Silke Frei, Teil der sportlichen Leitung, erzählt: «Bei jedem Aufstieg war man sich sicher, dass mehr einfach nicht geht. Als Ralf das erste Mal von Zweite Liga gesprochen hat, hat man sich ja nicht mal getraut davon zu träumen, so weit war der Verein davon entfernt. Jetzt sind wir von den Strukturen her natürlich immer noch lange kein richtiger Zweitligist, aber wir haben uns zwei Jahre finanziell echt gut geschlagen und konnten das Ganze stemmen».
Dennoch war nicht alles Gold, was glänzt; mehrfach hätte die Liaison beinahe vorzeitig geendet. Zweimal, in der Saison 2011/2012 und 2016/2017, hatte der Trainer trotz sportlichen Erfolgs bereits öffentlich seinen Abschied verkündet, einmal war er nach internen Unruhen sogar für zwei Tage entlassen. Den Vorfall möchte Wiggenhauser gar nicht weiter thematisieren, «das ist rum. Aber was aus diesem Urknall und dem Kern dieser Mannschaft entstanden ist, das ist eigentlich das, was uns bis heute trägt».

Drei sportliche Highlights bleiben ihm dabei ganz besonders im Gedächtnis. Zum einen das Abstiegsfinale 2008/2009 gegen die TS Ottersweier, bei dem nur der Sieger den Klassenerhalt in der Regionalliga feiern durfte. Die HSG Freiburg dominierte die Partie von Beginn an, der südbadische Kontrahent musste dagegen den bitteren Gang in die BWOL antreten. «Wir haben es irgendwie geschafft, so einen Spirit hinzukriegen, dass wir wichtige Spiele gewonnen und uns irgendwie da festgebissen haben. Das war schon krass. Das war auch eine tolle Mannschaft damals und das war das Fundament, dass es dann auch so weiterging», erinnert sich Wiggenhauser an das erste Drittliga-Jahr, in dem niemand mit dem Klassenerhalt gerechnet hatte. Dass seine Mannschaft ein Jahrzehnt später sogar noch eine Liga höher spielen und beim HC Leipzig – einem der größten Namen des deutschen Frauenhandballs – den ersten Zweitliga-Auswärtssieg der Vereinsgeschichte feiern würde, ist für den Trainer noch heute unglaublich. «Gegen Leipzig zu spielen, in dieser Halle, vor diesen tollen Fans dort mit einem Tor zu gewinnen, das war für mich wirklich einer der Höhepunkte», schwärmt der inzwischen 39-Jährige. «Aber handballerisch der absolute Höhepunkt war 2018 unser völlig verrücktes Unentschieden gegen Metzingen, die da eigentlich mit der kompletten Erstliga-Truppe aufgelaufen waren, um denen Spielpraxis zu geben. Wo Czoki (Nadine Czok) diesen direkten Freiwurf reinmacht mit Pfosten, Rücken, rein… Ich meine, wie oft passiert sowas, gerade im Handball? Beim Fußball kannst du dich vielleicht mal hinten reinstellen und auf 0:0 spielen, aber wenn da eine Shenia Minevskaja usw. beim Gegner mitspielen, das waren ja zig Nationalspielerinnen, und dann ein verdientes Unentschieden zu holen, wo wir wirklich super gespielt haben, das war sicher das handballerische Highlight schlechthin. Aber wiederum vom ganzen Drumherum natürlich nicht mit den Aufstiegen gleichzusetzen…».

Neben der Schwärmerei von den Erfolgen der letzten Jahre bleiben aber auch die beiden schwierigen Spielzeiten in der 2. Bundesliga hängen. Während die inzwischen als «Red Sparrows» firmierenden Handballerinnen in der Premierensaison bis zum Corona-bedingten Saisonabbruch fünf Siege einfahren konnten, die Halle regelmäßig voll und die Stimmung bei den Heimspielen immer überragend war, stellte die Corona-Saison 2020/2021 Verein, Team und Trainer vor noch größere Herausforderungen. Ohne die Unterstützung der heimischen Kulisse fehlte dem sportlichen Außenseiter ein entscheidender Faktor im Kampf um den Klassenerhalt. Dennoch kann Wiggenhauser auch dieser Ausnahmesituation etwas Positives abgewinnen. «Natürlich war diese Saison unter Corona-Bedingungen komisch, gerade am Anfang die leeren Hallen und Hygienevorschriften und so weiter, aber ich merke schon, dass es auch ein Privileg war, sich sehen zu können und unseren Sport auszuüben. Die Trainingsbeteiligung war natürlich extrem, klar, was sollte man auch anderes machen, die Sporthalle war immer verfügbar, also alles, was einen die Jahre zuvor auch oftmals genervt hat, das war dieses Jahr nicht der Fall». Trotz der geringen Punkteausbeute («Gegen die unteren Teams, die ich für schlagbar halte, haben wir leider oft nicht gut abgeliefert») ist der Trainer stolz auf seine Mannschaft: «Gegen sehr gute Mannschaften haben wir oft auch sehr gut gespielt, in Berlin, in Herrenberg, gegen Zwickau, das waren tolle Spiele». Weder von den Niederlagen, noch Verletzungen und persönlichen Schwierigkeiten habe man sich aus dem Gleichgewicht bringen lassen, «die Mädels haben unglaublich Gas gegeben und mir hat es in vielerlei Hinsicht auch total Spaß gemacht».

Nun ist aber Schluss. Endgültig. Wiggenhauser hat in der Schule sein lange angedachtes Sabbat-Jahr beantragt und zudem selbst die Suche nach einem Nachfolger für seinen Trainerposten vorangetrieben, um sein Team in gute Hände zu übergeben. «Igor Bojic ist ein ganz feiner Kerl, total handballbegeistert, mit einem guten Sinn für Humor. Er hat vieles, was es wahrscheinlich macht, dass es funktioniert. Wir telefonieren regelmäßig und ich hab ihm auch gesagt, wenn irgendwas ist, kann er sich jederzeit melden. Aber er ist dann der Chef und das wird er gut machen. Und ich freue mich, dann alles auch mal aus der Distanz zu sehen», blickt der scheidende Trainer voraus. Die Mannschaft im Stich zu lassen, kam für ihn nicht in Frage. Zu viel haben sie über die Jahre zusammen erlebt, auf den Handballfeldern der Republik, aber auch außerhalb der Halle bei abenteuerlichen Auswärtsfahrten, bissigen Abschlusshütten, legendären Feiern und Hochzeiten, nicht zuletzt seiner eigenen mit HSG-Torhüterin Lena Fischer (jetzt Wiggenhauser).

Das Team liegt ihm sehr am Herzen, das merkt man zu jedem Zeitpunkt. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Kaum ein schlechtes Wort kommt seinen Spielerinnen oder langjährigen Wegbegleitern über die Lippen. Mag sein, dass der eine oder die andere allzu negative Äußerungen ausspart, aber man nimmt es ihnen ab, dass es da tatsächlich über die Jahre nicht viel zu meckern gab. «Launische Diva», die schnell mal an die Decke geht, wild gestikuliert und rumschreit, viel mehr Kritik ist nicht zu hören – abgesehen von seinem zweifelhaften Fußballwissen und seiner Schwäche für mäßig erfolgreiche Proficlubs. «Im Laufe der Zeit hat man gelernt, wann man ihn ernstnehmen muss und wann eher nicht», schmunzelt die aktuelle Mannschaftskapitänin Carolin Spinner, «da kann man sich auf dem Spielfeld auch mal anbrüllen oder anbrüllen lassen. Nach dem Spiel quatscht man aber wieder über alle möglichen anderen Themen». «Er ist absolut handballverückt, die beste Eigenschaft ist allerdings, dass er Handball und privat völlig voneinander trennen kann», bestätigt Co-Trainer Ralf Sausmann, der diese Fähigkeit als Grundvoraussetzung für eine so lange Arbeit mit einer Mannschaft ansieht. Der «größte Geschichtenerzähler» und «Kindskopf» mit Hang zu Klatsch und Tratsch hat «immer einen blöden Spruch» auf Lager und ist auch für den einen oder anderen Spitznamen seiner Spielerinnen verantwortlich. Täubchen, Undertaker, Kobra, Oma oder Mozart werden wohl nicht nur ihren «Eigentümerinnen» noch eine Weile im Gedächtnis bleiben…

Nun heißt es aber Abschiednehmen, was nach 16 emotionalen, ereignisreichen und erfolgreichen Jahren ohnehin schwer-, durch die Corona-Bedingungen jetzt aber sogar teilweise ausfällt. «Ich merke schon an den vielen Nachrichten, die ich bekommen habe, von Spielerinnen und Leuten, die mir die letzten Jahre nahe standen, die auch gern zum letzten Spiel gekommen wären, was einem da wahrscheinlich entgeht. Das ist schon ein Punkt, der mich stört und auch umtreibt, aber was wir jetzt auch nicht ändern können». Die Geselligkeit bei den Auswärtsfahrten, die Halle, eine Mannschaft weiterzuentwickeln wird Wiggenhauser vermissen. Und vor allem die Emotionen bei einem Spiel, «das ist wahrscheinlich durch nichts zu ersetzen». Trübsal bläst er allerdings beileibe nicht. Im Sabbat-Jahr sind Reisen mit dem VW-Bus geplant, soweit es Corona zulässt. Raus in die Natur, wo sich Wiggenhauser und seine Frau Lena, die der HSG nach neun Jahren ebenfalls Auf Wiedersehen sagt, pudelwohl fühlen. Handball soll in den nächsten Monaten erst einmal keine Rolle spielen. Was danach kommt, steht noch in den Sternen. «Mit der Zeit in Freiburg weiß ich für mich persönlich, wir haben alles rausgeholt, was denkbar oder auch nicht denkbar war», sagt der frisch gebackene A-Lizenz-Inhaber nicht ohne Stolz, «Alles andere lasse ich auf mich zukommen. Es müsste aber auf jeden Fall etwas sein, was mich sehr reizt, was auch eher hochklassig ist. Männer, Frauen oder Jugend bin ich offen». Während seines Engagements bei der HSG gab es ein paar Anfragen anderer Vereine, «aber die Leute wussten glaube ich auch, dass ich nur schwer aus Freiburg wegzubekommen bin. Deswegen waren die Gespräche entweder sehr kurz oder sind gar nicht geführt worden. Oder sie finden mich nicht gut, das kann natürlich auch sein», lacht Wiggenhauser. Kaum vorstellbar, dass man den Sportverrückten nach seiner Auszeit nicht bald wieder wild gestikulierend am Seitenrand erlebt…

Lieber Ralf,
wir bedanken uns für die herausragende Zeit und wünschen dir alles Gute für deine Zukunft, wo auch
immer sie dich hinführt. Lass dich mal wieder blicken!
Bis bald, Deine Red Sparrows HSG Freiburg 🙂

(Bericht: Antje Matschenz)